© DAV/Markus Maier

Berge sammeln

10.12.2023

Axel Hake berichtet über seine Klettertour in den Alpen

In der zweiten Julihälfte 2023 hat das fast schon gruselig schöne Wetter im Norden überraschenderweise eine Pause eingelegt, gerade als ich in die Alpen fahre. Nach einer Klettertrainer-Pflichtfortbildung „Wild East“ im Thüringer Porphyr, möchte ich ein paar noch fehlende Berge einsammeln. Das Anlasshopping beruhigt mein leicht protestierendes Klima-Gewissen, dass ich diesmal mit dem PKW fahre. Immehin, selbstverordnet 100km/h auf der Autobahn, 80km/h auf der Landstraße, das spart ein Drittel Kraftstoff und damit einiges an CO2.

Das erste Ziel Zugspitze-Jubiläumsgrat wird wegen des labilen Wetters auf Höllental gekürzt. Auf der Karte sieht es nach einem langen Talhatsch aus. Real geht es gleich von Grainau steil bergan, die Höllental-bezahlschlucht über den oberhalb liegenden Stangensteig vermeidend, bis zur neu gebauten Höllentalangerhütte, ein Vorzeigeprojekt des DAV.

Hinter der Hütte weitet sich das spärlich bewaldete Tal bis zu einer sperrenden Felssstufe. Die gerade aufquellenden Wolkendecke verschluckt die Grate oberhalb. Das "Brett", eine stangengespickte Querung am Talende, ist der eher harmlose Auftakt der Klettersteigpassagen. Die Tritte sind durch tausendfache Begehungen glattpoliert. Oberhalb der Steilstufe endet die Vegetation. Vor den Schuttfeldern des vergehenden Höllentalferners finde ich ein halbwegs waagerechtes Biwakplätzchen mit Blick ins tief liegende Tal.

Nachts beginnt der angekündigte Regen. Mit wohliger Freude krieche ich in den Biwaksack. Fühlt sich schön an, wie der Regen auf die wasserdichte Hülle prasselt. Leider schleicht sich ein Wasserstrom vom offenen Kopfende der Biwakhülle zum Fußteil der Schlafsacks, der das Nass munter aufsaugt. Bald habe ich kalte Füße. Viel Schlaf ist nicht. Morgens regnet es zwar nicht mehr, aber der nasser Daunenklumpen im Rucksack beschwert den Weiterweg.

Der Höllentalferner ist nicht steil, aber teilweise blank, und ohne Grödel schlecht zu begehen. Am rechten Gletscherrand schleiche ich heikel zum Beginn der Felssicherungen durch, und besichtige nebenbei, was das schwindende Eis an alten Rucksäcken, Dosen, Skistöcken, und anderem Kram wieder ausspuckt.

Der inzwischen zart tröpfelnde Regen mutiert zum Gewitter. Das Drahtseil britzelt elektrisch, Blitze schlagen ein. Ich flüchte in die wenige Meter vom exponierten Gipfelklotz über der Tiefe hängenden Bergstation der Seilbahn. Ein monströser, einer Raumstation gleichender Außenposten der technischen Welt. Oben drauf hockt das`Münchner Haus` wie ein achtlos abgestellter Karton voller Bergnostalgietrödel.

Nachmittags zieht das Gewitter ab, dem Drahtseil des "Stopselziehersteig" steige ich ins österreichische Schneekar zur Wiener-Neustädter Hütte und weiter zum Eibsee. Bis zur Hütte geht es überraschend schnell, zieht sich in der Waldregion aber noch latschig hin. Zweitausend Höhenmeter und dreieinhalb Stunden nach dem Gipfel ist der glasklare türkise Eibsee das erfrischende Ende der Überschreitung. Als ich mit dem Mountainbike, das ich gestern mittag am Eibseebahnhof abgestellt hatte, nach Grainau zurückrolle, scheint wieder die Sonne.

Mittags schwitze ich auf dem Mountainbike von Gries der Amberger Hütte entgegen. Gestern bin ich noch von Grainau ins Ötztal hinüber und wollte heute eigentlich Ruhetag machen. Aber das gute Wetter lockte morgens zu sehr. Jetzt beginnt es doch wieder zu regnen. Durch schöne, feuchte Blumenmatten zieht sich der Weg Richtung Schrankogel auf der alten Moräne des Schrankarferners hin. Gegenüber schroffe Gipfel, tief unten das grüne, von Gletscherbächen durchzogene Tal. Auf 2600 Meter liegt ein kleiner See neben der Blockhalde, ein schöner, ebener Schlafplatz.

Von hier sind es 900 Höhenmeter zum Gipfel auf fast 3500 Meter, das Wetter leidlich, und der Tag noch nicht zuende. Ich deponiere die Biwaksachen und steige über den ziemlich langen Gratrücken. Wolkenfetzen fliegen vorbei, kurz öffnen sich Fenster auf die Berge der Umgebung. Ruderhofspitze, das Paradeziel von der Franz-Senn-Hütte mit dem ewig weiten Zustieg, ganz hinten tauchen Zuckerhütl und Wilder Pfaff auf und werden wieder verschluckt. Die schroffe Felszacke Wilder Leck am Talende und die Ötztaler Gipfel bleiben im Nebel. Im Abstieg treffe ich eine große Gruppe Steinböcke. Die Alten wachen über die grasenden Tiere, währen die halbstarken mit Knallen ihre Geweihstangen gegeneinander rammen. Als ich im Schlafsack liege, zieht über mir der Sternenhimmel auf. Ein schöner Bergtag.

Morgens kriecht die Sonne spät über die Moräne zum See. Eigentlich will ich zum Wilden Leck, das bedeutet 500 Meter runter und 1200 Meter wieder rauf. Ist der Gipfel ohne Steigeisen machbar? Ich lasse es. Unten an der Moräne steht ein Wegweiser, `Schrandele`. Das ist der Berg am Ende des Schrankars, 3390 Meter hoch. Wenn es ein Schild gibt, wird es da wohl hinaufgehen. Der flache, fast spaltenfreie Gletscher im Talschluss ist ohne Eisen gehbar, und auch das steilere Firnfeld zum Felsaufbau ist vormittags schon weich genug.

Vor mir mühen sich zwei bunte Menschlein durch den vom Gletscherschwund freigelegten, ungemütlich veränderlichen Steilschutt zum Beginn des zackig roten Felsgrates hinauf. Wir klettern den unterhaltsamen Grat gemeinsam und sind bei schönstem Sonnenschein erst die dritte Gruppe dieses Jahr auf dem Gipfel. Die gestern von dramatischen Wolkenfetzten versteckten Berge liegen heute gemütlich ausgebreitet da. Runter geht es wie rauf, im Schutt finden wir eine besser gangbare Alternative und nachmittags gibt es auf der Hütte ein Radler. Während die Jungs auf ihren Bikes den Ziehweg zu Tal rollen, schiebe ich mit Platten, was mich aber gar nicht so sehr stört.

Sulden, überragt von Ortler, Zebru, Königsspitze ist mehr eine weiträumige, ruhige Streusiedlung, denn ein kompaktes Dorf. Massentourismus gibt es sympatischerweise nicht. Nachmittags steige ich über Wiesen ins Zaytal gegenüber vom Ortler.

Wo sich vor einigen Jahren unter Tschengelser Hochwand, Hohem Angelus, Vertainspitze, noch Gletscher erstreckten, schuttet nun eine marsgleiche Fläche dahin, gesprenkelt mit einigen Seen. Im eisigen Wind und Nebel der abziehenden Kaltfront verstaue ich das Biwakzeug unter einem Stein. Den Einstieg zur Hochwand finde ich in Wolken und Schutt nicht, steige weiter über Schutt und Firn in eine Scharte.`Zayjoch` verkündet ein Schild; den Gipfel links davon erkrabble ich im whiteout winterlich vereist. Nachts ist es deutlich unter Null und ungemütlich, die Pfützen um den See vereisen.

Morgens ist der Plan den Hohen Angelus und die Vertrainspitze zu überschreiten, aber die Tschengelser Hochwand fehlt noch, das also zuerst. 2500 Meter über dem Vinschgau präsentieren sich die Ortlerberge, Bernina, Ötztaler, Texelgruppe, Stubaier. Im Osten ist die weit entfernte Pyramide des Antelao zu sehen, der Steilabbruch der Marmolada, das weite Gletscherplateau vom Großvenediger, im Süden Presanella, im Westen irgendetwas weißes großes, näher der Piz Linhard und Piz Buin in der Silvretta. Schön, Berge zu schauen, die ich schon bestiegen habe, besteigen möchte oder vielleicht nie besteigen werde.

Inzwischen ist es elf, zum Hohen Angelus geht es weglos über die von Moränenkämmen gegliederte Schuttebene. Der Angelusgrat beginnt steil an einem noch ziemlich neuen Drahtseil, dann geht es auf einen angenehm zu steigenden Schuttrücken zum Gipfel dahin. Der Übergang zur Vertainspitze zeigt sich abweisend. Was von unten ein zackiger Grat war, ist es von oben auch, statt Schneefelder zum Umgehen der Felstürme überall steiler Schutt. Der Gipfelaufbau ließe sich auf dem aperen Laaser Ferner zum Rosimjoch umgehen, aber wie kommt mensch auf den Gletscher runter? Das Joch ist wegen des Eisrückgangs nur noch schwer passierbar. Mir ist das heute Nachmittag zu viel Abenteuer, zumal die Wolkendecke schon wieder zuzieht und ich am Grat nicht gerne festsitzen möchte. Die 1600 Höhenmeter nach Sulden hinunter, über den Grat, über Schutt, über Wiesen, weiter unten an einem schön sprudelnden Bach entlang, füllt noch einen überraschend großen Teil des Nachmittags aus.